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02.08.2012 16:25
Was ist ein Sozialstaat?
Unter der Überschrift - Sozialstaat ist mehr als Sozialtransfer -  gibt Albrecht Müller in seinem gestrigen Artikel auf Anregung einer Leserin eine kurze Zusammenfassung dessen, was einen Sozialstaat ausmacht. Dabei wird deutlich, wie neoliberale Politik Sozialstaatlichkeit zerstört. Der Begriff Sozialstaat ist weitgehend stigmatisiert und Menschen haben die Vorstellung davon verloren, um was es überhaupt geht. Selbst unser Bundespräsident scheint aufklärungsbedürftig zu sein.  [Quelle: nds.de]   JWD


Albrecht Müller schreibt:
[Auszüge]: [..] Es ist auch mein Eindruck, dass viele Menschen beim Begriff Sozialstaat und Sozialstaatlichkeit vor allem an Transfers staatlicher Leistungen an Hilfsbedürftige, Arme, an Menschen in Not denken. Das ist ein wichtiger Teil von Sozialstaatlichkeit, ein Anliegen übrigens, das in der neueren Zeit ziemlich mit Füßen getreten, vernachlässigt wird.

Das Versprechen des Grundgesetzes zur Sozialstaatlichkeit meint neben der erwähnten Hilfe für Menschen in Not und für solche, die nicht selbst für sich sorgen können, vieles und vieles Vernünftiges mehr:
 
  Die solidarische Organisation der sozialen Sicherungssysteme

Die gute und ausreichende Versorgung mit öffentlichen Leistungen

Eine Steuerpolitik, die die Ungerechtigkeiten der primären Einkommensverteilung korrigiert.

Demokratische Verhältnisse

Die solidarische Organisation der sozialen Sicherungssysteme
Die Absicherung der allgemeinen und bei nahezu jeder und jedem eintretenden Risiken des Altwerdens, des Krankwerdens, des Pflegebedürftigwerdens und des Arbeitsloswerdens kann man privat oder öffentlich und solidarisch organisieren. Die gesetzliche Rente, die gesetzliche Krankenkasse, die Pflegeversicherung und die Arbeitslosenversicherung sind die öffentlich organisierten Regelungen zur Absicherung der Risiken.

Prinzipiell müssen diese öffentliche organisierten Versicherungssysteme nicht notwendigerweise Elemente von Sozialtransfers enthalten. Man könnte die gesetzliche Rentenversicherung so organisieren, dass das so genannte Äquivalenzprinzip voll gewährleistet ist. [..]

Gesetzlich geregelte Sicherungssystem können auch stärkere solidarische Elemente enthalten, so zum Beispiel die Gesetzliche Krankenkasse. Dort orientiert sich die Leistung der Krankenversicherung nicht maßgeblich an der Beitragsleistung des Versicherten. [..]

In der Regel arbeiten diese Systeme um vieles preiswerter und Ressourcen schonender als die private Organisation der Absicherung. Die Organisation der Riester-Rente über das Umlageverfahren zum Beispiel verschlingt im Schnitt 15 % der eingezahlten Prämien, die Gesetzliche Rentenversicherung kommt zur Organisation der Beitragserhebung und der Rentenauszahlung mit ungefähr einem Prozent der Beiträge aus.

Es gibt eine ziemlich breite Variation der speziellen Organisation gesetzlicher Sicherungssysteme. D.h., man kann die Sicherungssysteme durchaus verschieden organisieren. Zum Beispiel: die Einbeziehung aller Erwachsenen in die sozialen Sicherungssysteme, also auch der Beamten und der Selbstständigen. Oder die Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenzen. [..]

Angesichts der Effizienz der sozialen Sicherungssysteme und des zumindest gewissen Risikos der Privatvorsorge ist es erstaunlich, dass die in den letzten 20 Jahren die Politik bestimmenden politischen Kräfte die sozialen Sicherungssysteme destabilisiert haben:

Die Arbeitslosenversicherung wurde im Kern mit Harz IV abgeschafft. Wenn jemand nach einem Jahr Arbeitslosigkeit in Harz IV fällt, dann ist das keine ernst zu nehmende Versicherung mehr.

Die Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Rente ist durch vielerlei politischen Entscheidungen reduziert worden. Das geschah nicht zufällig. Es ist Teil eines Plans zur Förderung der Privatvorsorge. Diesen Vorgang hat einer der Agitatoren für die Privatvorsorge, Bernd Raffelhüschen, im Film Renten-Angst anschaulich beschrieben.

Der Pflege-Riester bringt den Einstieg in die Privatisierung auch dieses Zweiges der Risikovorsorge.

Ein dichtes soziales Netz ist eine wichtige Basis der sozialen Sicherheit und der Freiheit. Es ist in der Regel keine Hängematte.
Die gute und ausreichende Versorgung mit öffentlichen Leistungen

Wenn die Wasserversorgung in einer Gesellschaft ohne Rücksicht auf die Einkommenslage klappt und die Nutzung jedem und jeder möglich ist, wenn Kinder und Jugendliche unabhängig von der Einkommenslage ihrer Eltern Chancen zur Ausbildung und Bildung haben, wenn die Infrastruktur eines Landes so gut ausgebaut ist, dass auch Einkommensschwächere dieses Angebot nutzen können, wenn die öffentlichen Leistungen noch dazu preisgünstig angeboten werden, dann steckt darin ein wichtiges Element der Sozialstaatlichkeit.

Eine Steuerpolitik, die die Ungerechtigkeiten der primären Einkommensverteilung korrigiert.
Seit 30 Jahren sinkt der Anteil der abhängig beschäftigten Personen am Volkseinkommen. D.h., die so genannte primäre Einkommensverteilung ist schlechter und ungerechter geworden. In den letzten Jahren hat die Ungerechtigkeiten rasant zugenommen.

Das ist ein sehr schlechtes Ergebnis und war, wie wir wissen, gewollt. Die Reservearmee der Arbeitslosen sollte und hat dafür gesorgt, dass die Löhne über einen längeren Zeitraum stagnierten und die Gewinne und Vermögenseinkommen massiv stiegen.

In einer von Sachlichkeit in den Geist der Sozialstaatlichkeit geprägten Gesellschaft, weiß man in einer solchen Situation, was zu tun wäre: der Staat hätte die Aufgabe, mithilfe der Steuerpolitik die Ergebnisse der primären Einkommensverteilung zu korrigieren. Bei uns ist genau das Gegenteil passiert: die Vermögensteuer wurde gestrichen, die Unternehmenssteuern wurden gesenkt, den Spekulanten wurde zum 1.1.2002 die Steuerfreiheit für die Gewinne beim Verkauf von Aktienpaketen eingeräumt, die Erbschaftssteuer wurde ihrer Wirksamkeit weitgehend beraubt, etc. Und die Mehrwertsteuer die den Konsum der Massen belastet, wurde gleich um drei Punkte erhöht. [..]

Demokratische Verhältnisse
Die Sozialstaatlichkeit ist auf diesem Feld in vielfältiger Weise bedroht: Menschen und Gruppen mit finanzieller und publizistischer Macht beherrschen die Meinungsbildung und nehmen über Lobbyarbeit Einfluss auf politische Entscheidungen zu ihren Gunsten, zu Gunsten der Besserverdienenden und Vermögenden. Die Mehrheit hat das Nachsehen. [..]

Gleiches Recht für alle ist ein guter Gedanke und letztlich auch der Kerngedanke der Rechtsstaatlichkeit. Aber in der Realität gilt das schon lange nicht mehr. Wer finanziell gut ausgestattet ist, gut vernetzt ist und Beziehungen hat, kann sich Vorteile verschaffen. Wer darüber nicht verfügt ist benachteiligt. Eine eindeutige Verletzung der Sozialstaatlichkeit. Die oft schon beschriebenen neuen feudalen Verhältnisse in Deutschland sind nicht nur ein Angriff auf die Demokratie sondern auch auf die soziale Gerechtigkeit und Sozialstaatlichkeit.

Die große Mehrheit der abhängig arbeitenden Menschen ist inzwischen in wichtigen Institutionen in der Minderheit oder ausgeschlossen.

So zum Beispiel bei der Agentur für Arbeit. Bei der Vorgängerorganisation waren zumindest die Vertreter der Arbeitnehmerschaft, die Gewerkschaften, ähnlich repräsentiert wie die Arbeitgeberseite. Heute ist die Agentur in den Händen von betriebswirtschaftlich denkenden Abkömmlingen des Managements.

Ähnlich ist die Lage in den Rundfunkanstalten und in den Universitäten. Die breite Masse der Arbeitnehmerschaft hat dort nichts mehr zu sagen. Es liegt eine ziemlich undemokratische Machtübernahme hinter uns, die direkten Einfluss auch auf die soziale Lage der Menschen und damit auf die Sozialstaatlichkeit hat.

Die Sozialstaatlichkeit ist ein wunderbares Versprechen. Aber dieses Versprechen ist in vielfältiger Weise verletzt und aktiv gebrochen worden.


Link zum vollständigen Artikel bei ' nds.de '  ..hier


Anmerkung: Eigentlich wollte ich den Beitrag von Albrecht Müller stärker kürzen. Aber letztlich ist jeder Satz so prägnant, dass es noch kürzer kaum geht.

Seit Tagen beschäftigt mich ein Statement, welches in der Tagesschau zum Thema ESM von FDP-Brüderle abgegeben wurde. Man müsse seriöse Politik machen äußerte er in einer Borniertheit, die kaum zu überbieten ist. Weiteren Sozialabbau hatte er gefordert. Seriös ausgedrückt heißt so was dann "Reformen umsetzen".

Als Begründung dafür, warum die bisherige Kürzungspolitik versagt hat, führte der Seriösus u.a. an, Hollandes Sozialpolitik sei Schuld. Also etwas, was lediglich angekündigt ist. So langsam kann ich mir vorstellen, was sich hinter dem Begriff "seriöse Reformpolitik" verbirgt. Es ist wohl eine andere Bezeichnung für Schizophrenie. Als Pfälzer, sollte der FDP-Mann privat vorsorgen und in der Klink Landeck, ganze nahe bei seinem Heimatort Landau, schon mal einen Platz reservieren lassen. Lange kann das nicht mehr gut gehen.


Zum Thema private Altersversorgung, deren mutmaßliche Notwendigkeit mit dem demographischen Faktor begründet wird, hier noch ein kleines Erlebnis das zeigt, wie diese statistische Größe missverstanden und fehlinterpretiert wird. Meinem Einwand, diese Prognose würde, wenn überhaupt erst in ferner Zukunft zum Tragen kommen, wurde vehement widersprochen. Der Bürgermeister eines Ortes im Landkreis Kaiserslautern, müsse jetzt wegen der rückläufigen Geburtenzahlen die Schule schließen. Auch die Nachbarorte würden ihre Klassenzimmer nicht mehr voll bekommen, argumentierten die lokalen CDU-Eiferer.

Die Geburtenraten sind allerdings seit dem Pillenknick nunmehr seit 35 Jahren fast konstant, ja, seit ein paar Jahren sogar wieder leicht gestiegen. Ob dieses Argument wirklich angekommen ist kann ich schwer beurteilen. Interessant ist die wohl weit verbreitete Meinung, die Demographie sei daran Schuld in sofern, als man sich somit recht einfach aus der politischen Verantwortung stehlen kann.

Natürlich ist es ganz wesendlich die neoliberale Verelendungspolitik mit Sozialabbau, die  dazu führt, dass junge Menschen zunehmend in wirtschaftliche Ballungsräume abwandern müssen, um existieren zu können. Diese Abwanderung führt logischerweise dazu, dass  strukturschwächere Regionen überaltern und dort mangels Nachwuchs Schulen schließen müssen.

Aber so weit reicht die Fantasie der meist anstrengungslos denken wollenden, konservativen Schildbürger nicht. Sie ergötzen sicht lieber an den täglich vorgeführten, unsinnigen Börsenberichten. - Ach wie nervös die Märkte doch schon wieder sind -. Und folgern messerscharf, wir müssen einfach mehr, länger und härter arbeiten. Dies erscheint mindestes genauso offensichtlich, wie der demographische Faktor für die leeren Klassenzimmer verantwortlich ist. Tja...

 
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