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19.11.2012 00:10
»Für die Völker des Südens hat der dritte Weltkrieg längst begonnen«
Der deutsche Faschismus brauchte sechs Jahre, um 56
Millionen Menschen umzubringen. Der Neoliberalismus schafft das locker in gut
einem Jahr. [Quelle: jungewelt.de] JWD
Ein Gespräch mit Jean Ziegler. Interview: Peter Wolter
Der Schweizer Jean Ziegler war der erste UN-Sonderberichterstatter für das Recht
auf Nahrung und ist heute Vizepräsident des beratenden Ausschusses des
UN-Menschenrechtsrates.
Wir lassen sie verhungern« heißt Ihr neues Buch – Untertitel:
»Massenvernichtung in der Dritten Welt.« Wer ist verantwortlich dafür, dass
Millionen Menschen jedes Jahr verhungern?
Der »World Food Report« der UN sagt:
Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind
unter zehn Jahren, 57000 Menschen jeden Tag. Von den sieben Milliarden Menschen,
die es heute auf der Welt gibt, ist ein Siebtel permanent schwerstens
unterernährt. Zugleich stellt der Report aber fest, dass die Weltlandwirtschaft
nach dem heutigen Stand der Produktivkräfte problemlos zwölf Milliarden Menschen
ernähren kann. [..]
Wer also sind die Herren dieser kannibalischen Weltordnung?Da möchte ich
zunächst die zehn größten multinationalen Konzerne nennen, die 85 Prozent der
weltweit gehandelten Lebensmittel kontrollieren – sie entscheiden jeden Tag, wer
isst und lebt, wer hungert und stirbt. Ihre Strategie ist die
Profitmaximierung.
Können Sie Namen nennen?
Die US-Firma Cargill Incorporated hat vergangenes Jahr 31,8 Prozent des weltweit
gehandelten Getreides kontrolliert, die Dreyfus Brothers 31,2 Prozent des
Reises. Ich will kurz die vier wichtigsten Mechanismen identifizieren,
die den Hunger verursachen.
Zunächst wäre da die Börsenspekulation mit Grundnahrungsmitteln. Der
internationale Banken-Banditismus hatte 2007/2008 an den Finanzbörsen rund 85000
Milliarden Dollar Vermögenswerte vernichtet. Seitdem sind die meisten Hedgefonds
und Großbanken auf die Rohstoffbörsen umgestiegen, vor allem auf Agrarprodukte.
Wie gehabt wird auch auf diesem Sektor weiter mit Derivaten, »Short Selling« und
anderen legalen Finanzinstrumenten gehandelt, um mit Reis, Mais und anderem
Getreide astronomische Profite einzufahren. [..]
Laut Weltbank müssen 1,2 Milliarden Menschen von weniger als einem Dollar pro
Tag leben [..]
Ein zweiter mörderischer Mechanismus ist der zunehmende Einsatz von
Agrar-Treibstoffen. Alleine in den USA wurden 2011 aus 138 Millionen Tonnen Mais
und Hunderten Millionen Tonnen Getreide Biomethanol und Biodiesel hergestellt.
[..]
Und der dritte Mechanismus?
Das ist die Überschuldung der ärmsten Länder. Von den 54 Staaten Afrikas
sind 37 reine Agrarstaaten mit meist geringer Produktivität. Sie haben kein
Geld, um in Bewässerung, Agrartechnik oder Dünger zu investieren. Nur 3,8
Prozent der Fläche Schwarzafrikas ist bewässert – auf dem Rest wird
Regenlandwirtschaft wie vor 5000 Jahren betrieben.[..]
..öffentliche Finanzinstitute wie die Weltbank oder die Europäische
Entwicklungsbank [..] sagen diesen Staaten: Baut Eure Schulden dadurch ab, dass
Ihr das Ackerland Hedgefonds und Investoren überschreibt. »Landgrabbing«
nennt sich das, [..]. Diese Investoren [..] pflanzen auf diesem Land dann
Produkte an wie Avocados, Südfrüchte, Kaffee etc – für den Export nach Europa
oder Nordamerika. Für die Versorgung der einheimischen Bevölkerung bleibt
nichts übrig.
Einen vierter Mordmechanismus ist das Agrardumping. Auf jedem
afrikanischen Markt können sie heute frisches Gemüse, Geflügel und Früchte aus
Italien, Frankreich oder Deutschland kaufen, je nach Saison um die Hälfte oder
ein Drittel billiger als gleichwertige einheimische Erzeugnisse. [..]
Das, was die Kommissare in Brüssel anrichten, ist abgrundtief verlogen:
Durch ihre Dumpingpolitik fabrizieren sie den Hunger in Afrika – und wenn die
Hungerflüchtlinge sich nach Europa retten wollen, werden sie mit militärischen
Mitteln brutal ins Meer zurückgeworfen, wo jedes Jahr Tausende ertrinken. [..]
Haben Sie mit Ihrer Arbeit in den UN etwas bewegen können?
Wohl eher mit meinen Veröffentlichungen. Mein Buch basiert nicht nur auf
Statistik, es ist auch ein Erlebnisbericht, ich habe die Lage in vielen Ländern
an Ort und Stelle studiert. Ich kann jetzt genau sagen, wer die Halunken sind
– kann aber auch darauf hinweisen, welche Hoffnungen es gibt.
Für die Völker des Südens hat der dritte Weltkrieg längst begonnen. Solange wir
schweigen, sind wir Komplizen der Mörder. [..]
Immer mehr Menschen wird es klar, dass diese kannibalische Weltordnung von
Menschen gemacht wurde und auch von ihnen gestürzt werden kann. [..] Immanuel
Kant hat gesagt: »Die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird,
zerstört die Menschlichkeit in mir.« [..]
Link zum vollständigen Interview bei ' jungewelt.de '
..hier
Anmerkung: Der wiedergegebene Text ist im Wortlaut unverändert, jedoch
stark gekürzt auszugsweise
zitiert.
Jean Ziegler: Wir lassen sie verhungern – Die Massenvernichtung in der Dritten
Welt (Originaltitel: Destruction Massive, Paris 2011). [..]
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