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21.05.2015 10.00
Wie attraktiv ist der Westen?
Was sollen junge Menschen in Deutschland und Europa gut daran finden?
Wir wurden von Lesern/innen der NachDenkSeiten darauf
aufmerksam gemacht, dass die Journalistin Jana Simon in einem Beitrag für das
Zeitmagazin Nr.19 unter anderen die NachDenkSeiten dafür mitverantwortlich
gemacht hat, dass ein junger Mensch mit Namen Samuel zur Unterstützung des IS
nach Syrien gereist war. Die Enkelin von Christa Wolf hat diesen jungen Mann aus
Sachsen interviewt und beschreibt seine Geschichte. [Quelle:
nds.de / Albrecht Müller] JWD
Auf Seite 20 wird dann behauptet, in den Kreisen von Samuel seien unter anderem
die NachDenkSeiten gelesen worden. In der Welt dieser Seiten gebe es keine
Grautöne. „Jeder Zwischenton ist durch eine Meinung ersetzt. Zufälle existieren
nicht, stets wird ein Komplott vermutet.“ Auch zu 9/11. Von der Journalistin
wird der Versuch gemacht, die NachDenkSeiten zum Nährboden von Terroristen zu
erklären. Das Ziel dieser Diffamierung ist offensichtlich: Hier soll unsere
Kritik an den herrschenden Umständen und am Versagen der Medien als kritischer
Instanz ins Zwielicht gerückt werden. – Der Artikel von Frau Simon ist ein guter
Anstoß dafür, danach zu fragen, worin eigentlich die Attraktivität des Westens
für einen jungen Menschen in Europa liegen soll. Albrecht Müller
Die Autorin Simon schreibt vom „westlichen System“, das der junge Mann Sebastian
für verlogen und widersprüchlich gehalten habe. „Mein Leben kam mir recht
nutzlos vor. Ich habe mich recht leer gefühlt.“ Er habe einen Halt gebraucht und
dann sei er beim Koran gelandet. Er erhoffte sich wie viele andere islamistisch
orientierte junge Männer und Frauen eine Antwort auf die Fragen des Lebens, eine
klare Orientierung und Aufgabe sowie eine Perspektive. Vom Westen habe er nur
noch das Schlimmste erwartet und sei dann eben bei deutschen
„Verschwörungstheoretikern“ gelandet. Damit sind auch die NachDenkSeiten
gemeint.
Es ist schade, dass die Journalistin Simon der Frage nach der Attraktivität des
Westens für junge Menschen in Deutschland und Europa nicht nachgegangen ist. Es
wäre spannend gewesen, zu erfahren, was die
1972 in der DDR
geborene
Schriftstellerin, versehen mit ihrem speziellen familiären Hintergrund,
attraktiv am Westen findet. Ersatzweise will ich dieser Frage aus der Sicht
eines sehr viel Älteren und in der alten Bundesrepublik politisch Aktiven
nachgehen und mich dabei in die Lage eines Jugendlichen im heutigen Europa zu
versetzen versuchen.
Der Westen war einmal attraktiv. Aber ist er das noch? Richtig, wir können
reisen, wohin wir wollen, und sagen, was wir wollen, und Politiker und
Wirtschaftskapitäne kritisieren. Das ist schon richtig und auch attraktiv. Aber
die Chance zum demokratischen Wechsel und auch die Aussicht, in einem
einigermaßen gerechten Land zu leben, sind bedrückend geschrumpft.
Anders als manche Freunde und andere kritische Zeitgenossen fand ich an unserem
System Einiges durchaus attraktiv: die Kombination aus Elementen von Markt und
Wettbewerb mit sozialstaatlichen Leistungen und sozialer Sicherheit, mit dem
immerhin schon zu Beginn der siebziger Jahre begonnenen wenn auch unzureichenden
Schutz für Umwelt und Natur und vor allem mit einer aktiven
Beschäftigungspolitik, die sicherstellen sollte und teilweise auch konnte, dass
die lohnabhängigen Menschen auch Nein sagen können, jedenfalls keine Angst um
ihren Arbeitsplatz und in der Regel Alternativen hatten.
Aber diese attraktiven Elemente des Systems sind mit der Invasion der
neoliberalen Ideologie mutwillig und absichtlich zerstört worden. Nicht nur aus
ideologischen Gründen, auch um die Einkommens- und Vermögensverteilung zugunsten
der oberen Einkommen und Vermögen zu verschieben. Statistisch nachweisbar ist
das gelungen. Aus meiner Sicht hat dies und anderes die Attraktivität des
Systems maßgeblich beschädigt.
Im einzelnen:
- Gibt es die demokratische Kontrolle und die Chance zum politischen Wechsel im
Westen noch?
Wo ist denn die Attraktivität demokratischer Willensbildung und die Chance zum
demokratischen Wechsel, wenn nur noch die Hälfte der Wählerinnen und Wähler zur
Wahl geht? Wie vor kurzem in Bremen und davor in anderen Bundesländern. Und in
anderen Ländern Europas und den USA sowieso. Das muss doch Gründe haben. Sie
bleiben ja nicht zu Hause, weil das System so attraktiv ist.
Wo ist denn die Attraktivität einer sogenannten Demokratie, wenn die Wählerinnen
und Wähler mehrheitlich bestraft werden, weil sie aus der Sicht der Herrschenden
falsch gewählt haben wie in Griechenland?
Wo ist denn die Attraktivität eines Systems so genannter demokratischer
Willensbildung, bei dem die Reichen und Gut-gestellten die Chance haben, mit
Geld und Propaganda die veröffentlichte Meinung und dann auch die öffentliche
Meinung und die Wahlergebnisse zu ihren Gunsten zu beeinflussen?
Wo ist die Demokratie geblieben, wenn das Eigentum an Medien in wenigen Händen
konzentriert ist und wenn der Kampf um Einschaltquoten und der Kommerz auch
weite Teile der ehedem einigermaßen bewundernswerten öffentlich-rechtlichen
Sender beherrschen? Der junge Sebastian, den die Autorin Simon beschreibt kann
nicht wissen, wie weit Public Relations schon die öffentliche Meinungsbildung
und Entscheidungsfindung beherrscht. Er kann es nur ahnen, weil er merkt, dass
die Interessen der Menschen in seinem Umfeld kaum Niederschlag in der
praktischen Politik finden. Aber die Autorin Simon müsste das wissen. Und weil
wir NachDenkSeiten-Macher solche Machenschaften aufdecken, müssten wir
eigentlich ihre Zustimmung finden, und vielleicht sogar ein Dankeschön.
Eine erwachsene Journalistin müsste auch wissen, dass die Konkurrenz der
maßgeblichen Parteien in Deutschland schon nicht mehr richtig funktioniert, weil
ihre innere Willensbildung auf unerträgliche Weise gleichgerichtet ist. Nicht
aus sachlichen Gründen. Jene, die im Westen das Sagen haben, bestimmen
inzwischen nicht nur über weite Strecken den öffentlichen Konkurrenzkampf bei
Wahlen, sie haben auch die Finger in der inneren Willensbildung und in den
Personalentscheidungen unserer etablierten fünf Parteien CDU, CSU, SPD, FDP und
Grüne. Und bei der Linkspartei wird diese Einflussnahme vehement versucht und
geübt. Wer diese Analyse für übertrieben hält, möge mir bitte drei Fragen
beantworten: A. Wer hat wie dafür gesorgt, dass der Wahlverlierer und SPD
Spitzenkandidat von 2009, Frank-Walter Steinmeier mit „sagenhaft“en 23 % für die
SPD, gerade mal die Hälfte des besten Ergebnisses der SPD, ohne jeglichen
Widerstand mit dem nach der Wahl wichtigsten Amt belohnt wurde, mit dem des
Fraktionsvorsitzenden? B. Wie ist es möglich, dass in der jetzigen
Auseinandersetzung zwischen Ost und West der von der SPD im Berliner
Grundsatzprogramm vom Dezember 1989 festgeschriebene Wille, auch die NATO
aufzulösen und Europas Sicherheit in einem System gemeinsamer Sicherheit auch
mit Russland und anderen Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes anzustreben und
erreichen zu wollen? Wer hat das alles vergessen gemacht? Das waren doch nicht
die Mitglieder und Wählerinnen und Wähler der SPD. C. Haben die Mitglieder und
Sympathisanten der Grünen oder gar ihre früheren Wähler diese Partei so
verändert, dass man sie nicht mehr wiedererkennt?
Kann man als junger Mensch irgendwo noch erkennen, dass in dieser westlichen
Demokratie eine grundlegend andere Politik noch eine Chance hat? TINA, There Is
No Alternative hat sich nahezu vollständig durchgesetzt und wird als Erkenntnis
und Handlungsleitlinie propagiert. Ist es attraktiv, in einem System zu leben,
in dem die Einflussreichen propagieren, es gäbe keine Alternative zur
herrschenden Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik? Die Parole TINA macht das
Land unattraktiv für junge Menschen. Der Westen kennt keine demokratische
Alternative mehr. Damit ist Demokratie nur noch ein wertloses Etikett.
- Kennt der Westen noch das großartige und viel gepriesene Konzept der
Chancengleichheit?
Glaubt die Autorin Simon, junge Menschen wie Sebastian würden nicht erkennen,
dass es heute einen gravierenden Unterschied macht, in welche Familie und
Gesellschaftskreise man hineingeboren wird? Wer vermögend ist hat um vieles
höhere Chancen als der arm Geborene.
Wie attraktiv ist ein System, das in Ländern der Europäischen Union wie Spanien
oder Griechenland jeden zweiten Jugendlichen arbeitslos lässt und ohne
berufliche Perspektive und damit auch ohne die Perspektive, auf gesicherter
Basis eine Familie zu gründen?
Ist es attraktiv, wenn junge Menschen sich die Mühe einer Ausbildung machen und
dann ihre Heimat verlassen müssen, wenn sie etwas verdienen wollen? Soll ein
System Eindruck auf einen jungen Menschen machen, wenn die handelnden Politiker
und Wirtschaftskapitäne davon schwärmen, dass sie die gut ausgebildeten Menschen
eines anderen Landes gut gebrauchen könnten und deshalb abwerben? Was ist das
für eine doppelbödige miese Moral? Davon sollen sich junge Menschen beeindrucken
lassen?
Wo ist die Attraktivität eines Systems geblieben, in dem die Reichen immer
reicher werden und die Armen ärmer und die Mittelschicht absinkt? Vielleicht hat
die Autorin Simon keine ökonomischen Probleme. Dann kann man in der Tat
übersehen, dass es viele Menschen mit wirtschaftlichen Problemen gibt und dass
sie sich als Opfer einer Propaganda sehen, die allen einzureden versucht, uns
allen ginge es gut. Aber die Qualität einer guten Journalistin und
Schriftstellerin müsste sich gerade darin erweisen, dass sie sich in die Lage
anderer Menschen zu versetzen vermag. Das schafft sie offenbar genauso wenig wie
Bundespräsident Gauck, dessen tägliches Schwadronieren über die Freiheit
offensichtlich missachtet, dass die tatsächliche Freiheit eines Menschen auch
von den ökonomischen Mitteln und von der sozialen Sicherheit abhängt, über die
sie oder er verfügt.
Was ist das für ein System, indem es üblich geworden ist, dass die spekulativ
begründeten Geldvermögen der Reichen im Krisenfall gerettet werden und die
Steuerzahler und die Allgemeinheit dafür zahlt?
- Wo ist die Wertorientierung des Westens geblieben?
Soll ein System für junge Menschen attraktiv sein, wenn sie erleben, dass
Egoisten am erfolgreichsten sind und Solidarität allenfalls noch als Caritas
gewürdigt und ansonsten der Lächerlichkeit preisgegeben wird? Der Idealismus
junger Menschen findet in diesem System tatsächlich keinen Platz zur Entfaltung.
Sie erleben ein Auseinanderbrechen der Gesellschaft, in einen fast schon
feudalen und sich jedenfalls feudal gebenden Bereich der Oberschicht auf der
einen Seite und die schaffende oder arbeitslose Mittel- und Unterschicht auf der
anderen Seite.
- Das System war attraktiv wegen seiner Sozialstaatlichkeit. Wo ist sie geblieben?
Ist der Westen noch attraktiv, wenn dort zugelassen wird, dass
Sozialstaatlichkeit diskreditiert und dann auch tatsächlich geschliffen wird?
Ist der Westen noch attraktiv, wenn die öffentlichen Leistungen begleitet von
einer üblen Sparagitation heruntergefahren werden und privaten Interessen immer
mehr Spielraum verschafft wird? Ist ein System attraktiv, wenn die Basis der
Freiheit der Mehrheit, nämlich die soziale Sicherheit, systematisch kaputt
gemacht wird, zum Beispiel durch bewusste Erosion der Leistungsfähigkeit der
staatlichen Altersvorsorgesysteme? Angesichts der absichtlich betriebenen
Erosion der Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Rente ist Altersarmut die
Perspektive der jungen Menschen, selbst dann wenn sie zu den Glücklichen
gehören, einen Job zu haben.
In guten Zeiten des Westens gehörte die Erkenntnis zum Wissen politisch
engagierter Menschen, dass nur Reiche sich einen armen Staat leisten können, die
Mehrheit jedoch auf ein System guter öffentlicher Leistungen angewiesen ist: von
der Schule über Schwimmbäder bis zur Wasserversorgung, von der
Verkehrsinfrastruktur und einem guten öffentlichen Nahverkehr bis zur
Gesundheitsversorgung. Ist ein System attraktiv, wenn öffentliche Unternehmen
und die Versorgung mit öffentlichen Leistungen privatisiert und/oder privat
finanziert werden, obwohl diese privaten kommerziellen Wege weniger effizient
sind und damit teurer werden?
- Nie wieder Krieg, der Krieg ist kein vernünftiges Mittel zur Lösung von
Konflikten und das Konzept: Gemeinsame Sicherheit in Europa. Wo Sind diese
Einsichten geblieben?
Was soll attraktiv an einem System sein, dessen Politiker ständig auf dem Weg
sind, neue Felder für militärische Experimente zu entdecken, bevor sie alle
Möglichkeiten zur friedlichen Lösung von Konflikten ausgelotet haben? Was ist
attraktiv an einem System, das mit diesen militärischen Interventionen Länder
und Kulturgüter zerstört und Menschen zur Flucht nötigt und dessen
Verantwortliche dann nicht einmal erkennen und schon gar nicht bekennen, dass
die Flüchtlingsströme mit ihren eigenen Fehlentscheidungen und militärischen
Aktionen zu tun haben? Glaubt die Autorin Simon wirklich, für Sebastian und
seine Altersgenossen könnte ein so verlogenes System attraktiv sein? Die Autorin
hat übrigens auch nicht ausreichend analysiert, welche Rolle der Westen bei der
Entstehung und Förderung des Terrorismus des islamischen Staates gespielt hat.
Wie kann man ein so langes Stück von neun eng beschriebenen Seiten über die
Abwanderung junger Deutscher zum islamischen Staat schreiben, ohne die Rolle des
Westens bei der Entstehung dieses Terrors zu beschreiben?
- Prinzipielle Gleichheit und Gleichberechtigung der Völker und unantastbare
Souveränität – das gehört zumindest zum Glaubensbekenntnis westlicher
Philosophie und Politik
Aber wo sind diese Versprechen geblieben? Meint die Autorin Simon, junge
Menschen würden nicht wahrnehmen, dass der Westen schon lange keine Versammlung
von Gleichen unter Gleichen ist? Merkt sie nicht, dass die USA eine
vorherrschende Weltmachtrolle beanspruchen und dass diese Form des
Zusammenlebens der Völker alles andere als attraktiv ist?
Kann man als Journalistin unterstellen, dass junge Leute nicht mitbekommen, dass
von Deutschland aus tödliche Drohnenangriffe auf Menschen in anderen Ländern mit
gesteuert werden? Kann man Ignoranz und Blindheit junger Menschen gegenüber der
Verletzung unserer Souveränität durch ausländische Geheimdienste unterstellen?
- Freiheit des Denkens und freier Meinungsaustausch unter Menschen, und Schutz der
Privatsphäre – das sind wichtige Errungenschaften des Westens. Wo sind sie
geblieben?
Wir werden prinzipiell alle ausspioniert – das ist zumindest die Möglichkeit.
Und unsere Regierung schützt uns nicht dagegen. Ja sie belügt uns in dieser
Angelegenheit sogar. Das merken auch junge Menschen. Und eine erwachsene
Journalistin wundert sich, dass junge Menschen das Vertrauen in ein solches
System verlieren? P.S.: Junge Menschen haben wie auch die Erwachsenen angesichts der herrschenden
Umstände allen Grund, das Vertrauen in solche Journalisten/innen zu verlieren.
Diese tun nämlich nichts, um die Qualität des von ihnen gepriesenen Westens
wiederzugewinnen und dann zu erhalten.
Anhang:
Auszug aus dem Zeitmagazin Nr. 19
Einschlägige Passagen. Passage zu den NachDenkSeiten ist gefettet:
[...]
Weiterlesen im Originaltext bei ' nachdenkseiten.de
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