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21.06.2016 14:15
... Ist die Spirale der Eskalation zwischen
NATO und Russland vom Himmel gefallen?
Am 14. Juni hatten wir auf das
Video mit der Rede „Wir wollen keine
Konfrontation mit Russland und laden die USA herzlich ein, gemeinsam in Europa
den Frieden zu sichern“ verlinkt. Hier folgt die Textfassung. Die Rede ist sehr
aktuell – wie man zum Beispiel an den Einlassungen von Außenminister Steinmeier
wie auch an einer heute (mit Sperrfrist 12 Uhr) veröffentlichten, im Kern
begrüßenswerten
Erklärung des Willy-Brandt-Kreises sehen kann. Eine kurze
Kommentierung dieser Erklärung folgt später. [Quelle:
nds.de / Albrecht Müller] JWD
Quelle: KenKM | veröffentlicht 14.06.2016
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Albrecht Müllers Warnung vor der akuten
Kriegsgefahr
Albrecht Müller war Planungschef im
Bundeskanzleramt unter Willy Brandt und Helmut Schmidt, und gibt heute die
NachDenkSeiten heraus, die sich als Sprachrohr für kritische und pazifistische
Stimmen verstehen. Auf der Auftaktkundgebung zu den diesjährigen
Stopp-Ramstein-Protesten warnte er in der bis auf den letzten Platz gefüllten
Versöhnungskirche in Kaiserslautern vor der akuten Kriegsgefahr, die von der
Politik der führenden Nationen dieser Tage ausgeht. |
Soviel vorweg: Die Autoren des Willy-Brandt-Kreises müssen sich die Fragen
gefallen lassen, ob die „zwischen Russland und der NATO eingetretene
Eskalationsdynamik“ vom Himmel gefallen ist und ob der Westen und Russland in
gleicher Weise für die neue und gefährliche militärische Konfrontation
verantwortlich sind. Meine hier folgende Rede vom 10.6.2016 in Kaiserslautern
enthält die ausführliche Antwort auf diese Fragen. Die kurze Antwort lautet:
Nein.
Einführung Albrecht Müllers
bei der Vortrags- und Diskussionsveranstaltung im Rahmen der Kampagne Stopp
Ramstein am Freitag den 10. Juni 2016 19:00 Uhr in der Versöhnungskirche,
Kaiserslautern
Thema der Veranstaltung:
(Drohnen-) Kriege beenden!
(Der Text entspricht in wesentlichen Teilen der gehaltenen Rede, ergänzt um
Teile des Entwurfs, die wegen der Kürze der Zeit beim Vortrag gestrichen worden
waren.)
Guten Abend, verehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde, liebe
Frau Reimann, lieber Herr Wimmer.
Was verbindet uns?
Erstens: Wir sind hier, weil wir gescheitert sind. Wir sind hier, weil wir
betrogen worden sind.
Zweitens: Wir sind hier, weil wir trotzdem nicht aufgeben. Nicht weil wir Helden
sind, es bleibt uns nichts Anderes übrig, wenn wir überleben wollen und wenn wir
wollen, dass unsere Kinder und Enkel auch noch leben können.
Hoffentlich habe ich Sie mit diesen beiden Anfangsbemerkungen nicht hoffnungslos
entmutigt. Aber: es bleibt uns nichts Anderes übrig, als der Wirklichkeit in die
Augen zu schauen. Diese ist bitter:
Wir sind in der Zeit nach 1989 maßlos und in großem Stil
betrogen worden.
Wir Älteren, die damals engagiert waren, sowieso. Die jüngeren, weil der Betrug
ihre Zukunft betrifft, ja sogar ihr Leben kosten könnte.
Das klingt etwas rätselhaft. Es ist aber tatsächlich nicht rätselhaft. Ich will
erläutern, was ich meine. Und dabei auf meine persönlichen Erfahrungen
zurückgreifen:
- 1968 bin ich als Redenschreiber des damaligen Bundeswirtschaftsministers Karl
Schiller nach Bonn gekommen. Zwei Jahre vorher hatte der kleinere Partner in der
Großen Koalition, die SPD, mit Willy Brandt durchgesetzt, dass mit der Ost- und
Entspannungspolitik begonnen wird. Ein Jahr später, 1969 war die Blockade durch
Kanzler Kiesinger, seine Partei, die Union und die Gegner der Versöhnung mit dem
Osten jedoch offensichtlich. Deshalb wurde die neue Friedenspolitik zum Thema
des Wahlkampfes 1969. Als Mitarbeiter von Karl Schiller, der Mitglied des
Präsidiums der SPD war, bin ich damals mitten in den Wahlkampf um diese
Ostpolitik geraten.
- Nach der Wahl im September 1969 hat dann die neue Regierung Brandt mit der
sogenannten Vertragspolitik begonnen: es ging Schlag auf Schlag, schon 1970 der
Moskauer Vertrag, dann der Warschauer Vertrag und der Prager Vertrag. Es ging
bei den Vertragswerken – wie der Name sagt – darum, sich endlich zu vertragen
und den Kalten Krieg zu beenden.
Eines der Schlüsselworte lautete „Wandel durch Annäherung“, d.h. Abbau der
Konfrontation zwischen West und Ost, um damit Frieden zu schaffen und auch eine
Veränderung im Inneren, im Warschauer Pakt und auch bei uns im Westen zu
erreichen, insbesondere mehr demokratische Rechte im Osten, mehr
Bewegungsfreiheit für die Bürgerinnen und Bürger in der DDR und in anderen
Ländern des sogenannten Ostblocks.
- 1972 war ich dann als Wahlkampfleiter von Willy Brandt mitverantwortlich für die
Absicherung der Ostpolitik durch die Wählerinnen und Wähler bei der
Bundestagswahl. Das endete mit einem überzeugenden Votum von 45,8 Prozent für
die SPD und einem überwältigenden Votum für die Friedenspolitik.
- Danach ging es mit Höhen und ein paar Tiefen weiter mit der Ostpolitik, über die
Konferenz zur Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) und mit der Idee
der Gemeinsamen Sicherheit in Europa. Keine Konfrontation, weder mit den
früheren Satelliten der Sowjetunion noch mit der Sowjetunion und Russland
selbst.
- Wichtig ist: die Entspannungs- und Vertragspolitik war von einem besonderen
Geist und von wichtigen Einsichten getragen: der Begriff „vertrauensbildende
Maßnahmen“ war sehr wichtig. Es war klar, dass die eigene Politik nie dazu
beitragen sollte, Misstrauen zu säen. Es war klar, dass wir in dem, was wir
taten und was wir sagten, immer mitbedenken wollten und mussten, wie das bei den
anderen, dem früheren Gegner, empfunden wird, was es dort auslöst. Konfrontation
hatte im anderen Lager Verhärtung ausgelöst. Entspannung und Versöhnung haben
dazu geführt, dass Politiker wie Gorbatschow, die auf Versöhnung setzten und ihr
Land verändern wollten, möglich wurden.
- Entspannung, Versöhnung und vertrauensbildende Maßnahmen raubten den
Militaristen auf beiden Seiten die Argumente. Das ist sehr aktuell.
- Wichtig war es damals und wäre es heute, sich in die Lage der anderen zu
versetzen. Damals musste dem deutschen Volk – und manchen Politikern und
Journalisten ohnehin – erst einmal vermittelt werden, dass und wie sehr
Russland, die Sowjetunion und die Völker Ost- und Mitteleuropas unter dem
Zweiten Weltkrieg gelitten haben. 27 Millionen Menschen verloren allein in der
Sowjetunion im Krieg zwischen 1941 und 1945 ihr Leben. Im Deutschland der
fünfziger Jahre haben die tonangebenden Kräfte hierzulande locker über diese
Opfer hinweggesehen und hinweg agitiert, eigentlich ein unglaublicher Vorgang.
- Diese Entspannungs-, Friedens- und Versöhnungspolitik war dann gekrönt worden:
mit dem Mauerfall, mit der Fortsetzung und Intensivierung der politischen und
wirtschaftlichen Zusammenarbeit und mit der Weiterarbeit an der
zukunftsweisenden Idee „Gemeinsamer Sicherheit“ in Europa.
- Im SPD-Grundsatzprogramm von 20. Dezember 1989 ist dies und einiges
Zukunftsweisendes unser Thema „Stopp Ramstein“ betreffend formuliert und
beschlossen worden. Ich erinnere mich deshalb noch gut daran, weil ich damals
als Bundestagsabgeordneter und Sprecher der Parlamentarischen Linken zusammen
mit Egon Bahr eine Art Schlussredaktion für diesen Teil des Grundsatzprogramms
gemacht hatte.
Unter der Überschrift „Frieden in gemeinsamer Sicherheit“ steht zu lesen:
„Unser Ziel ist es, die Militärbündnisse durch eine europäische Friedensordnung
abzulösen.“
Und weiter heißt es von den militärischen Bündnissen Warschauer Pakt und NATO:
„Sie müssen, bei Wahrung der Stabilität, ihre Auflösung und den Übergang zu
einer europäischen Friedensordnung organisieren. Dies eröffnet auch die
Perspektive für das Ende der Stationierung amerikanischer und sowjetischer
Streitkräfte außerhalb ihrer Territorien in Europa.“
So weit waren wir schon einmal!
„Von deutschem Boden muss Frieden ausgehen“,
heißt es dann noch. Und von Abrüstung und nicht von Aufrüstung ist die Rede. Der
Text wäre wegweisend für heute.
Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger, die diese Politik mitbewirkt und
mitgetragen haben und auch die handelnden Personen – von Helmut Kohl über
Gorbatschow, Willy Brandt, Egon Bahr, Helmut Schmidt, Herbert Wehner und Richard
von Weizsäcker bis zu Willy Wimmer, den ich damals noch nicht persönlich kannte
– wir alle waren überzeugt davon, dass es in Europa keinen Graben und keine
Mauer und keinen Stacheldraht und auch kein Gegeneinanderrüsten mehr geben soll.
Wir waren überzeugt davon, dass das auch geht.
- Und der Osten hat kooperiert. Die Sowjetunion hat sich aus Deutschland
zurückgezogen. Sie hat akzeptiert, dass die DDR in die NATO integriert wird. Die
Verantwortlichen in Russland haben viele Zugeständnisse gemacht. Sie haben
darauf vertraut, dass es kein Wettrüsten zwischen West und Ost mehr geben wird.
Auf beiden Seiten gab es vertrauensbildende Maßnahmen und eine glückliche
Perspektive.
Dann wurde alles anders. Wir wurden um die Früchte der Friedenspolitik betrogen.
Die NATO wurde bis an die Grenze Russlands ausgedehnt. Deutlich imperialistische
Züge bestimmten und bestimmen jetzt die Politik des Westens.
Von dieser grundlegenden Änderung, vom Betrug, wie ich das nenne, hat die
deutsche Öffentlichkeit nicht viel wahrgenommen. Willy Wimmer hat mir davon
berichtet, dass Helmut Kohl, der Bundeskanzler, anfangs der Neunzigerjahre des
Öfteren besorgt aus den USA zurückkam und davon berichtete, dass man dort
offensichtlich nicht mehr viel von den gemeinsamen Verabredungen hielt. Er hat
miterlebt, wie Helmut Kohl sich Sorgen machte wegen der Neigung der USA, die
Konfrontation neu aufzubauen und die NATO nach Osten auszudehnen.
Willy Wimmer hat dann später, 2000, in einem Brief an den dann amtierenden
Bundeskanzler Gerhard Schröder von den imperialen Absichten berichtet, die auf
einer Konferenz in Bratislava, die vom American Enterprise Institute und vom
State Department gemeinsam ausgerichtet war, spürbar wurden. Da ging es um die
Ausdehnung des Machtbereichs des Westens in Richtung Russland.
Heute müssen wir feststellen, dass die westliche Politik grundlegend auf den
Kopf gestellt worden ist: Wir führen Krieg, auch wir Deutschen haben den Krieg
auf dem Balkan mitgemacht. Die westlichen Alliierten führen im Irak, in Libyen,
in Syrien, in Afghanistan, an vielen Stellen Afrikas Krieg.
Der Westen maßt sich an zu entscheiden, wie Völker und von wem sie regiert
werden sollen; der Westen verfolgt deshalb an vielen Stellen die Strategie des
sogenannten Regime Change – das ist eine Zielsetzung und eine Strategie, die
wahlweise alle Länder betreffen kann, deren Regierungen uns nicht genehm sind:
Gaddafis Libyen, Assads Syrien, demnächst vielleicht Putins Russland.
Der Auftrag der Bundeswehr wurde verändert. Die Beschränkung auf Verteidigung
beseitigt.
Das sind wirklich gravierende Veränderungen.
Mir waren an zwei Ereignissen anfangs der Neunzigerjahre Zweifel daran gekommen,
ob die im Westen führenden Kräfte die Erfolge der Ost- und Vertragspolitik
erhalten und genießen wollen:
- Ich war Abgeordneter des Deutschen Bundestages, als im Zuge der deutschen
Einheit auch über die Rechte der Alliierten und insbesondere der USA in
Deutschland beraten wurde. Ich wollte damals genau wissen, ob die uns
bedrängenden Sonderrechte erhalten bleiben würden. Das betraf den militärischen
Tiefflug, das betraf die Giftgaslager in der Pfalz und die sonstigen
Einrichtungen der Alliierten wie hier in Kaiserslautern, in Landstuhl und in
Ramstein. Die Tiefflugübungen waren eine Marter. Aber über die Fragwürdigkeit
der Fortsetzung dieser Rechte der Alliierten wollte man mit uns Abgeordneten
nicht beraten. Ich wurde damals von Bundestagskollegen, die als „links“ galten,
bedrängt, ich solle doch meinen Widerstand aufgeben.
- Noch markanter war ein Erlebnis mit Rudolf Scharping. Er war 1991 in den
Landtagswahlkampf mit der Parole gezogen, Rheinland-Pfalz wolle nicht weiter der
„Flugzeugträger der USA in Europa“ sein. Dann wurde gewählt und Rudolf Scharping
wurde Ministerpräsident. Er reiste in die USA und rühmte sich dann dessen, einen
Lobbyisten für das Land Rheinland-Pfalz in Washington installiert zu haben. Ein
guter Freund in den USA konnte darüber nur lächeln, denn da hatte offenbar ein
deutscher Ministerpräsident verabredet, dass sein Land, Rheinland-Pfalz, den
Lobbyisten der US-Regierung auch noch bezahlt. – Einige Zeit danach traf sich
die SPD-Landesgruppe Rheinland-Pfalz/Saarland in der Saarländischen
Landesvertretung in Bonn. Wir sprachen dabei auch über die weitere Ostpolitik
und die Zusammenarbeit mit Russland. Des Ministerpräsidenten Rudolf Scharpings
Äußerungen widersprachen dabei sowohl seinen Parolen im Wahlkampf,
Rheinland-Pfalz solle nicht weiter der Flugzeugträger der USA in Europa sein,
als auch dem, was kurz zuvor im Berliner Grundsatzprogramm vom 20.12.1989
beschlossen worden war: die Perspektive einer Beendigung beider Militärblöcke,
auch der NATO. – Ich wollte von Rudolf Scharping wissen, ob denn das Berliner
Programm für ihn nicht mehr gelte. Er antwortete mit einem klaren Nein. Das
Wahlversprechen des Ministerpräsidenten-Kandidaten und späteren
Ministerpräsidenten gilt nicht, Rheinland-Pfalz ist weiter der Flugzeugträger
der USA in Europa. Die Bundesregierung und auch die rheinland-pfälzische
Landesregierung haben sich den Interessen der USA gebeugt.
Es ist wahrscheinlich, dass im Umfeld der Verträge zur deutschen Einheit de
facto die Vormachtstellung der USA über unsere Außen- und Sicherheitspolitik und
vor allem die Nutzung deutschen Territoriums für Kriegshandlungen
festgeschrieben worden ist. Aber dies kann nun wirklich kein Dauerzustand sein.
Wir sind um die Früchte der vergangenen Friedenspolitik betrogen worden. Das ist
kein Zufall. Die ethische Grundeinstellung zum Umgang mit anderen Völkern, der
Geist, der die Außen- und Sicherheitspolitik heute bestimmt ist ein diametral
anderer als zu Beginn des Entspannungs- und Versöhnungspolitik.
In der Regierungserklärung des Bundeskanzlers Willy Brandt vom 28. Oktober 1969
heißt es:„Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein und werden, im Innern und nach
außen.“
„Von deutschem Boden muss Frieden ausgehen!“ heißt es im oben zitierten Berliner Grundsatzprogramm der SPD.
In seiner Nobelpreisrede sagte Willy Brandt 1971:„Der Krieg darf kein Mittel der Politik sein. Es geht darum, Kriege
abzuschaffen, nicht nur, sie zu begrenzen. Kein nationales Interesse lässt sich
heute noch von der Gesamtverantwortung für den Frieden trennen. Jede
Außenpolitik muss dieser Einsicht dienen.“ Wir sind inzwischen meilenweit von solchen Einsichten entfernt. Von deutschem
Boden geht Krieg aus. Von deutschem Boden aus wird der Einsatz von Drohnen
vermittelt und gesteuert, um Menschen zu töten.
Und der Geist der Verantwortlichen hat sich völlig verändert:
„Dass es wieder deutsche Gefallene gibt, ist für unsere glückssüchtige
Gesellschaft schwer zu ertragen“. Das ist Originalton des amtierenden Bundespräsidenten Gauck.
Bundespräsident Gauck, Außenminister Steinmeier und Verteidigungsministerin von
der Leyen sind im Januar 2014 in München bei der Sicherheitskonferenz gemeinsam
aufgetreten und haben mehr internationale Verantwortung gefordert und
versprochen; damit war unmissverständlich mehr militärischer Einsatz gemeint.
Man muss sich darüber klar werden, wie verschieden der Geist ist,
- der unser Zusammenleben in Zeiten des Kalten Krieges in den fünfziger Jahren des
letzten Jahrhunderts geprägt hatte und heute wieder prägt
- und jener Geist, der die Zwischenzeit, die Zeit der Entspannungspolitik und der
erfolgreichen Beendigung der Konfrontation in Europa geprägt hat.
Die eine Konzeption, die Konzeption der gemeinsamen Sicherheit geht davon aus,
dass man sich mit allen Völkern verständigen kann, dass man sich dann allerdings
darum bemühen muss. Zu diesen Völkern, um die man sich bemüht hat, gehörte bis
1990 auch Russland.
Die andere Konzeption, die Konzeption der Aufteilung der Welt in Gut und Böse,
geht davon aus, dass man dem Bösen drohen muss, dass man rüsten muss, dass man
abschrecken muss.
Wenn wir uns die neue Konfrontation zwischen West und Ost in Europa anschauen,
dann sollten wir einmal innehalten und uns dessen erinnern, wie es zwischen
Deutschland und Frankreich aussah, und wie positiv sich das Verhältnis zwischen
unseren Völkern entwickelt hat: Mein Großvater war noch erfüllt von Verachtung
für „die Welschen“, wie man zu seiner Zeit in der Kurpfalz die Franzosen nannte.
Noch 1950 hat er mir Illustrierte aus dem siebziger Krieg des 19. Jahrhunderts
gezeigt, wo der Sieg über die Franzosen gefeiert wurde. Dieser Geist war
glücklicherweise nicht maßgeblich für das, was dann passierte: die Verständigung
mit Frankreich. Heute kämen zumindest einigermaßen vernünftige Menschen nicht
mehr auf die Idee, das Feindbild der Franzosen neu aufzubauen, wie man das mit
Russland und Putin tut. Es geht also, trotz aller Unterschiede zwischen den
Völkern.
Über die Dringlichkeit der friedenspolitischen Debatte
Wir sind betrogen worden. Aber es bleibt uns nichts Anderes übrig, als weiter zu
machen, weiter zu demonstrieren und zu debattieren und Menschen auf die
Notwendigkeit des friedlichen Miteinander aufmerksam zu machen.
Das ist wichtig, denn wir sind inzwischen von Menschen und Medien umgeben, die
am Krieg nichts außerordentlich Schlimmes finden, die Kriege zu führen als etwas
Selbstverständliches betrachten:
Am 8.6. lief im Deutschlandfunk eine Diskussion unter dem Titel „Amt und
Würden“, moderiert von Stephan Detjen.
In dieser Diskussion sprach der ehemalige Chefredakteur des Rheinischen Merkur,
Michael Rutz, davon, Bundespräsident Gauck habe uns vom „friedenspolitischen
Mehltau befreit“.
Sie, liebe Freundinnen und Freunde, die Sie heute nach Kaiserslautern gekommen
sind, um gegen die Nutzung Ramsteins für den Drohnen-Einsatz der USA zu
protestieren, sind Bestandteil dieses Mehltaus.
Die Dringlichkeit der friedenspolitischen Aufklärung wird in einer solchen
Äußerung sichtbar. Die Dringlichkeit wird darin sichtbar, dass Kriegstreiberei
inzwischen hoffähig geworden ist. Im wahren Sinne des Wortes hoffähig. Der
amtierende Bundespräsident Joachim Gauck nutzt das Schloss Bellevue dazu, um
Stimmung für Kriegseinsätze zu machen und damit auch Stimmung für das, was von
hier aus, von Ramstein aus, an Vernichtung und an völkerrechtswidrigem Mord
betrieben wird.
Die Kriegsgefahr ist größer geworden. Das will ich an zehn Punkten, an zehn
Risiken für den Frieden, sichtbar machen:
- Der erste ist die erwähnte Feststellung, dass die Werbung für den militärischen
Einsatz, dass Kriegstreiberei wieder hoffähig geworden ist. Der Bundespräsident,
mehrere Bundesminister und Diskussionsteilnehmer im öffentlich-rechtlichen
Rundfunk wie dem Deutschlandfunk bereiten den Boden. Kriege zu führen wird als
selbstverständlicher Teil der Politik betrachtet.
- Es gibt unter den Menschen geringeren Widerstand gegen Kriege. Das hat viel
damit zu tun, dass die meisten heute lebenden Menschen keine unmittelbare
Kriegserfahrung mehr haben, nicht mehr haben können. Die Älteren unter Ihnen
haben vermutlich Verwandte und Freunde verloren im letzten Krieg oder sie haben
Kriegseinsätze unmittelbar erlebt. Ich bin in einem Dorf aufgewachsen, dessen
Bahnhof ein Knotenpunkt auf einer Strecke zu einer V2 Produktion war. Wir waren
ständig Angriffen von Jagdbombern ausgesetzt. Es gab Tote. In der Ferne haben
wir am Nachthimmel Mannheim, Pforzheim, Heilbronn und Würzburg brennen sehen –
auch ich als Sechsjähriger. Das prägt. Die Kriegserfahrung unserer heute
Sechsjährigen ist eine ganz andere: eine elektronische beim Spiel, eine
spannende, oft eine siegreiche. Das prägt auch.
- Kriege werden tatsächlich geführt. Die Scheu ist abhandengekommen. Bei
Journalisten und Politikern und auch bei Militärs: „Die USA sind bereit, gegen
Russland in Europa zu kämpfen und es zu besiegen“, erklärte der Supreme Allied
Commander Europe (SACEUR), US-General Breedlove, in einer Anhörung des
US-Repräsentantenhauses im Februar 2016.
- Die Regime Change-Absichten der USA sind höchst gefährlich, gerade wenn sie wie
im Falle der Ukraine ein Land in der Nähe Russlands betreffen, oder Russland
selbst.
- Überall wird an neuen Feindbildern gestrickt. Es wird personalisiert. Putin ist
an allem schuld, in Syrien Assad.
- Und das Volk ist müde geworden. Das ist verständlich. Der skizzierte Betrug an
uns und unseren Erwartungen und Leistungen zur Beendigung der Konflikte in
Europa hat ja wohl bei der Mehrheit der Menschen den Eindruck hinterlassen, dass
man eh nichts machen kann, dass die Politik von den Oberen bestimmt wird, dass
die Rüstungswirtschaft Einfluss auf politische Entscheidungen hat und damit auch
auf Kriege.
- Die USA sind weit weg. Die zitierte Äußerung des Generals der USA lautet ja
nicht zufällig: „die USA sind bereit, gegen Russland in Europa zu kämpfen und es
zu besiegen“. Wenn der General angedeutet hätte, dass dieser Krieg auch in den
USA selbst geführt werden könnte, wäre er im Ausschuss des Repräsentantenhauses
vermutlich nicht freundlich aufgenommen worden.
- Im heutigen Ost-West-Konflikt gibt es viele verschiedene Akteure und es gibt
viele Gelegenheiten und Möglichkeiten, an denen sich Spannungen entzünden
können. Die baltischen Staaten, die Ukraine, die Balkanstaaten, die
Rüstungswirtschaft bei uns, in den USA, in Großbritannien, irgendwelche rechts
konservativ denkenden Funktionäre – sie alle können die Ursache von kleinen und
größer werdenden Konflikten werden.
- Es gibt russische Minderheiten in mehreren möglichen Konfliktregionen.
- Es ist nicht auszuschließen, sondern eher wahrscheinlich, dass sich auf mittlere
Sicht innerhalb möglicher Kriegsparteien kriegslüsterne oder auch nur
kriegsbereite Personen und Gruppen durchsetzen. Das kann in den USA passieren.
Das kann in Dänemark, in Polen, in den baltischen Staaten oder sonst wo
passieren. Und auch in Russland. So wie wir erfolgreich darauf setzen konnten,
dass die Strategie des „Wandel durch Annäherung“ dazu führen könnte und wird,
dass sich in Russland, in der Sowjetunion und im Warschauer Pakt Kräfte
durchsetzen, die Konflikte friedlich lösen wollen und auf gemeinsame Sicherheit
in Europa setzen, so kann umgekehrt die neue Konfrontation zu inneren
Veränderungen in Russland führen, die uns dem heißen Konflikt näher bringen.
Mit der Beschreibung dieser zehn Risiken für den Frieden wollte ich nicht Angst
machen. Ich wollte ein realistisches Bild von der veränderten Situation
zeichnen. Es gibt so viele verschiedene Spieler in den heutigen
Auseinandersetzungen und die Wirklichkeit der Welt ist so stark von
militärischen Aktionen geprägt, dass es ganz und gar nicht abwegig ist, die
Wahrscheinlichkeit eines großen Krieges für hoch zu halten.
Das ist die Botschaft, die ich ihnen vermitteln wollte. Mehr nicht. Und das
sollte auch der Anstoß für Sie sein, sich zu engagieren und bei anderen Menschen
dafür zu werben, dass sie sich in einer neuen großen Friedensbewegung
zusammenfinden.
Unser Ziel ist klar: wir wollen in Europa gemeinsame Sicherheit. Auch mit
Russland. Wir wollen die Zusammenarbeit und nicht die Konfrontation. Wir wollen
keine neuen Feinde und keine neuen Feindbilder. Und wir wollen auch nicht, dass
von unserem Boden Krieg ausgeht; wir wollen nicht, dass Menschen in anderen
Regionen der Welt von hier aus bedroht und getötet werden.
Wenn wir das zusammen mit den USA und anderen westlichen Mächten erreichen, dann
ist das prima.
Die USA sind herzlich eingeladen. Auch die Nachbarstaaten Russlands in Osteuropa
sind herzlich eingeladen, an dieser friedlichen Zusammenarbeit und am
friedlichen Zusammenleben in Europa weiter mitzuwirken. So wie es 1989 und 1990
vereinbart worden ist.
Wenn den USA das nicht möglich ist, dann müssen wir nach Wegen suchen, unsere
Beteiligung an Kriegen auf andere Weise zu beenden und wir müssen versuchen,
gemeinsame Sicherheit in Europa unter einem begrenzten Teil von Teilnehmern zu
organisieren. Das klingt kompliziert. Ich sehe aber nicht, dass wir notfalls
eine andere Wahl haben.
Der erste Schritt wäre die Kündigung der Möglichkeit, Einrichtungen wie in
Ramstein für den militärischen Einsatz in anderen Ländern zu nutzen.
Der zweite Schritt wäre die Befreiung aus der US-amerikanischen Vormundschaft.
D.h. konkret: Wenn die USA nicht bereit sind, sich auf die Verabredungen von
1989 und 1990 zu verständigen, wenn sie an einer gemeinsamen Sicherheit in
Europa, die den Frieden mit Russland einschließt, nicht interessiert sind, dann
sollten wir uns aus dem Bündnis, aus der NATO, zurückziehen und wir sollten
vorher versuchen, so viele andere Nationen Europas wie möglich, für diesen
Schritt zu gewinnen.
Ein solcher Schritt wendet sich nicht gegen das Volk der USA. Es wendet sich
gegen eine bestimmte Politik. Er wendet sich gegen die inzwischen eingerissene
Vorstellung, die USA seien das einzige Imperium und sie hätten das Recht und die
Pflicht, andere Völker als Vasallen oder Mitstreiter zu betrachten.
Der Wandel des Verhältnisses zu den USA und der Wandel der Notwendigkeiten im
Umgang mit den USA
Viele Deutsche sehen in den USA eine Nation und in den dortigen Menschen ein
Volk, das uns sehr geholfen hat: mitgeholfen bei der Befreiung von den Nazis,
geholfen bei der wirtschaftlichen Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg. Man
kann dieses Bild hinterfragen, aber es hat viel Wahres an sich und außerdem
empfinden es sehr viele Leute so. Nicht alle.
Viele Deutsche sehen in den USA jene, die uns vor den Sowjets und den
Kommunisten geschützt haben. Auch wenn man das anders sehen kann, generell kann
man wohl sagen, dass in den fünfziger und sechziger Jahren so etwas wie ein
abschreckendes Gleichgewicht der Kräfte bestand. Damals waren wir von den USA
geschützt, heute werden wir benutzt.
Heute könnte man und müsste man wohl deutliche Grenzen setzen und zum Beispiel
zu sagen wagen:
Bei aller Freundschaft zu US-Amerikanern:
- es geht nicht, uns als Nachschubbasen und Ausgangsort militärische Aktionen
gegenüber anderen Völkern zu benutzen.
Bei aller Freundschaft,
- wir wollen nicht weiter der Flugzeugträger und Kommunikationsplatz für
Drohneneinsätze der USA sein.
Bei aller Freundschaft,
- wir teilen nicht die Vorstellung, die Welt müsse von einem Imperium beherrscht
werden, es muss möglich sein und wird möglich sein, dass alle Völker insgesamt
friedlich miteinander umgehen.
Bei aller Freundschaft mit Amerika,
- wir teilen nicht die Vorstellung, dass sich ein Volk, eine Nation, die
Reichtümer eines anderes Landes aneignen kann. Was die USA und ihre Wirtschaft
z.B. mit Russland in der Zeit von Präsident Jelzin getrieben haben, ist schlicht
unanständig und nicht friedensfördernd.
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Die USA sind ein interessantes Land. Die US-Amerikaner sind oft kreativ und
menschenfreundlich. Ich habe als junger Mensch in Heidelberg, meiner
Heimatstadt, eine Reihe von produktiven kulturellen Erfahrungen mit US-Bürgern
gemacht. Im Jazzclub Cave 54, mit dem Amerika-Haus usw.
Es gibt überhaupt keinen Grund, ein schlechtes Verhältnis zu US-Amerikanern zu
haben.
Aber es gibt einige Gründe, die USA als imperiale Macht nicht mehr zu
akzeptieren. Weil das gefährlich ist, weil der grundlegende Geist der
Beherrschung und der Konfrontation einem friedlichen Zusammenleben der Menschen
nicht gut tut und im konkreten Fall Europas äußerst gefährlich wird.
Deshalb wird es die Hauptaufgabe der deutschen Politik in den nächsten Jahren
und Jahrzehnten sein, uns aus der Vormundschaft der USA zu lösen. Das ist eine
Herkulesarbeit.
Unsere Sicherheit in Europa muss auf Zusammenarbeit und nicht auf Konfrontation
und nicht auf Abschreckung beruhen.
Link zum Originaltext bei ' nachdenkseiten.de ' ..hier
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